Fernsehen – Eine Anleitung zum Trinken?

Es ist Freitag. 17 Uhr. Feierabend! Ich bin seit sieben Wochen nüchtern. Ich packe langsam meine Sachen bei der Arbeit zusammen und mache mich auf den Heimweg. Im Park vor meiner U-Bahn Station sitzen ein paar Leute und trinken das erste Feierabendbier. Es ist Juli, die Abende sind warm und es zieht alle Leute nach draußen zum Trinken. Mich nicht! Ich nehme den Aufzug in die B-Ebene und warte – in Gedanken noch immer bei den Leuten im Park – auf meine U-Bahn. Von der gegenüberliegenden Seite strahlt mir ein Werbeplakat entgegen. Drei junge Leute mit Alkohol in der Hand. Die Werbung hat nicht einmal etwas mit Alkohol zu tun. Der ist nur da, um das „Lebensgefühl“ zu transportieren. Auf dem Heimweg fällt mir auf, dass ich noch einkaufen muss, falls ich am Abend etwas anderes als Nudeln mit Tomatensauce essen möchte. Vor ein paar Wochen hätte ich mir den Gang am Abend zum Supermarkt noch nicht zugetraut, aber inzwischen fühle ich mich darin, den Weg durch das Labyrinth der Alkoholangebote meistern zu können, einigermaßen sicher. Kaum betrete ich den Supermarkt, lächelt mir das Bier entgegen. Krombacher ist im Angebot. Vorbei am Bier, vorbei am Weinregal. An der Kasse siniere ich kurz darüber nach wie pervers es eigentlich ist, dass die kleinen Wodka und Schnapsfläschchen direkt an der Kasse trapiert sind. Neben den Süßigkeiten für die Kinder. Als die kleine Versuchung für Erwachsene sozusagen. Um dem Alkoholabhängigen noch eine letzte Hirde in diesem Minenfeld aus Alkohol zu stellen. Endlich zu Hause, lasse ich mich, nach Nudeln mit Tomatensauce (das Einkaufen hat wenig an meiner Kochmotivation geändert), auf das Sofa fallen und schalte den Fernseher an. Ich zappe von „Bitte ein Bit“ über „des Wodkas reine Seele“ zu einem Familienfilm im Ersten. Endlich sicher. Zumindest bis die gestresste Mutter am Abend beim Kochen zu allererst ein Glas Wein zur Entspannung kippt. Ich entscheide mich dazu früh schlafen zu gehen. Das war genug Alkohol für einen Tag.

So oder so ähnlich liefen viele meiner Tage in der ersten Zeit der Nüchternheit ab. Alkohol ist in unserer Gesellschaft so allgegenwärtig, so sehr die Norm, dass er wie zu einem blinden Fleck geworden ist. Er ist immer da und doch bzw. gerade deshalb nehmen wir ihn nicht mehr wahr.1 Ich habe jahrelang nicht einen Gedanken daran verschwendet mir über meinen eigenen Alkoholkonsum Gedanken zu machen, noch zu hinterfragen wie es um Alkohol in unserer Gesellschaft steht. Alkohol fährt im toten Winkel neben uns her und wenn wir den Schulterblick machen und ihn sehen, ist es oft schon zu spät.

Wird man nun auf die Allgegenwart aufmerksam gemacht oder entscheidet sich gar das Spiel nicht mehr mitzuspielen, ist Alkohol auf einmal überall. In der Werbung, in Filmen, im Fernsehen, auf jeder Feier, jedem Geburtstag, auf Trauerfeiern, zum Feierabend, bei Firmenevents. Der blinde Fleck erstrahlt auf einmal in allen Farben. In Film, Fernsehen und der entsprechenen Werbung schlägt der Alkohol einem in voller Wucht entgegen, sobald man einmal darauf aufmerksam gemacht wurde. (An dieser Stelle: Gern geschehen!)

Wissenschaftler:innen an der Uni Würzburg wollten es 2017 ganz genau wissen und haben sich für eine Woche mit ordentlich Popcorn in ihren Zimmern eingeschlossen und unser Fernsehprogramm hoch und runter analysiert! (So stelle ich mir das jedenfalls vor!) In ihrer 2018 veröffentlichten Studie zur „Darstellung von Drogen und Sucht im deutschen Fernsehen“2 haben sie sich das Programm der unter Jugendlichen beliebtesten Fernsehsender (u.a. ARD, ZDF, RTL, SAT 1, ProSieben) genauer angesehen . Hierbei ging es nicht nur um die Sichtbarkeit von legalen (Alkohol und Tabak) und illegalen Drogen (Cannabis, chemische Drogen) sowie anderen Süchten, sondern auch um die Thematisierung bzw. Bewertung der jeweiligen Droge im Fernsehprogramm.

Und wenn ich mir die Ergebnisse der Studie so ansehe, dann wundert es mich nicht, dass ich das Gefühl habe, der Alkohol verfolgt mich überall hin! Im Fernsehen tut er das tatsächlich! In 95,8 Prozent aller analysierten Filme ist Alkohol sichtbar, wird konsumiert oder der Konsum angedeutet3. Bei Serien sind es mit 61,2 Prozent zwei von drei Serien, bei Daily Soaps mit 45,8 Prozent beinahe jede zweite Soap. Und hier wurde nicht nur das Fernsehen zur Primetime analysiert, sondern das Fernsehprogramm zwischen 13-22 Uhr. Wir können also schon ab der Mittagszeit unseren Lieblingscharakteren dabei zusehen wie sie sich täglich die Kante geben.

Das Bedenkliche daran? Alkohol-Trinken wird in sehr hoher Regelmässigkeit als Normalität ohne Konsequenzen verkauft. Ganz gleich wie viel unsere Lieblingscharaktere in Serien und Filmen konsumieren, die Verfolgungsjagd im Schnellboot haben sie noch jedes Mal für sich entschieden. Genauso wenig wie wir oft die Konsequenzen des Alkoholkonsums vermissen dürfen, findet eine Bewertung und Einordnung des Konsums statt. Dies passiert tatsächlich nur in jeder zehnten Sendung. Um das mal zeitlich einzuordnen. In der untersuchten Woche zeigt der Sender ProSieben 182 Minuten lang Alkohol und/oder dessen Konsum. Das sind über drei Stunden! Im Gegensatz dazu kommen wir auf 12 Minuten, in denen Alkoholkonsum tatsächlich thematisiert wird und eine Einordnung stattfindet. 182 Minuten „Normalität und Selbstverständlichkeit“ vs. 12 Minuten „Hey hier wird Alkohol konsumiert? Let’s talk about it!“.

Alkohol – die Zuflucht der gestressten Mutter! Denn Muttersein ist laut zahlreichen Serien und Filmen ohne Alkohol wohl nicht zu bewältigen.

Alkohol -„der gute Freund des vom Leben Gebeutelten.“4 Was sonst sollte man gegen die schlechte Laune tun, als zu trinken?!

Wenn der Whiskey im Film rausgeholt wird, dann wissen wir, dass es ernst wird. Das Glas Wein am Abend verspricht Entspannung und wenn die Tatortkommissare sich auf ein Bier in der Kneipe treffen, dann gibt es neue Hinweise! Ein einfaches Telefonat oder eine Whatsapp Nachricht würden dramaturgisch auch einfach nicht so viel hergeben. Alkohol schafft Atmosphäre. Wie sonst sollten wir Frust, Stress, Verzweiflung, Entspannung oder auch Freude dramaturgisch ausdrücken können?! Das mag keine kreative Lösung für die Umsetzung bestimmter Szenen sein, es ist aber sicherlich eine sehr gängige.

Jetzt möchte ich hier nicht jede Partyszene, jeden Club- und Barbesuch in Filmen und Serien kritisieren. Darum geht es mir eigentlich gar nicht so sehr. Dass bei der Abschlussfeier, der Hochzeit oder dem Geburtstag im Film Alkohol fließt, ist verständlich. Dass nach dem Tod eines Familienmitgliedes die Gefühle in Alkohol ertrunken werden, mag eine für den Film sinnige Darstellung der Situation sein. Mir geht es vielmehr, um die vielen „versteckten“ und meiner Meinung nach eher überflüssigen Auftritte, in denen Alkohol für die weitere Handlung so gar keine Rolle spielt, aber trotzdem präsent ist. Nehmen wir als Beispiel die Serie Black-ish. Die Komödie gibt uns einen Einblick in das Leben einer amerikanischen Großfamilie. Die Mutter, Rainbow Johnson, ist eine erfolgreiche, emanzipierte Ärztin, die Arbeit und Familie versucht unter einen Hut zu bekommen und aus welchen Gründen auch immer in JEDER Folge am Abend in der Küche mit einer Flasche Wein in der Hand zu finden ist. Der Wein wird nicht thematisiert, er spielt keine Rolle für die Handlung. Der Konsum des Weins hat keine weiteren Folgen im Verlauf der Serie und suggeriert einem selbst als Zuschauer:in doch in einer Nebensächlichkeit und Selbstverständlichkeit, dass Alkohol zu unserem täglichen Leben dazugehört und zur absoluten Norm gehört.

Gerade wenn Alkoholkonsum nicht eingeordnet und dadurch verharmlost und bedenkenlos als Norm dargestellt wird, birgt das Gefahren. Es gibt inzwischen zahlreiche Studien die sich mit der Beeinflussung des Konsumverhaltens von Jugendlichen durch Film und Fernsehen beschäftigen. Die WHO hat im Jahr 2009 eine ausführliche Studie herausgebracht, die einen Zusammenhang zwischen „rauchenden Vorbildern“ in Filmen und dem eigenen Tabakkonsum von Jugendlichen feststellen konnte.5 Eine Gruppe an europäischen Wissenschaftler:innen haben in den Jahren 2009 bis 2011 in sechs verschiedenen europäischen Ländern eine Gruppe an Jugendlichen begleitet und in ihrer Studie einen Zusammenhang zwischen deren Alkohol- und Filmkonsum feststellen können.6 All diese Studien haben natürlich ihre Limitationen und Jugendliche wie auch Erwachsene werden von ihrer gesamten Umwelt und vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst. Es spielt eine Rolle wo man aufwächst, von wem und was man umgeben ist und welche sozialen und finanziellen Mittel einem zur Verfügung stehen. Nichtsdesto trotz sind Film und Fernsehen ein Teil dieser Faktoren, die unser Handeln und Denken beeinflussen.

Heißt das Alkohol soll aus dem Fernsehbild verschwinden? Nein, das wäre auch gar nicht möglich. Aber sollte man dessen Rolle einmal überdenken? Auf jeden Fall! Ich würde mir wünschen, dass Alkohol aus dem blinden Fleck herausgezogen wird und ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, wie sehr diese abhängigmachende Substanz von unserer Gesellschaft in Film, Fernsehen und der dazugehörigen Werbung glorifziert wird. Ich bin überzeugt davon, dass kreativere dramaturgische Lösungen in Film und Fernsehen gefunden werden können, um ein bestimmtes Gefühl oder eine Atmosphäre ausdrücken zu können. Und bis es soweit ist, bleibt mir nichts anderes übrig als weiter die Augen zu verdrehen, wenn meine Lieblingscharaktere das Gefühl haben, dass ein Whiskey während der Arbeitszeit eine vollkommen normale und bedenkenlose Handlung ist.

  1. Daniel Schreiber (2014): Nüchtern S. 104
  2. Kim Otto (2018): Darstellung von Drogen und Sucht im deutschen Fernsehen
  3. Unter angedeutetem Konsum versteht man in der Studie beispielsweise das Einschenken und Zeigen von alkoholischen Getränken ohne das tatsächliche Trinken on Screen sehen zu können.
  4. Markus Werner (2020): Alkohol als Lösung: Bei Netflix wird dauernd gesoffen!
  5. WHO (2009): Smoke-free Movies: From Evidence to Action
  6. Pediatrics Volume 133 (2014): Portrayal of Alcohol Consumtion in Movies and Drinking Initiation in Low-Risk Adolescents

2 Kommentare zu „Fernsehen – Eine Anleitung zum Trinken?

  1. Ich muss sagen, ich habe unheimlich viel Respekt vor Leuten, die nicht trinken. Das Ganze ist einfach eine fiese Gruppenzwang-Sache, mehr als eine Sucht. Ich trinke aus anderen Grtünden nicht – und zwar nicht nur keinen alkohol, sondern auch keinen kaffee und andere Sachen, weil sie mir nicht schmecken. Ich werde ständig unter Druck gesetzt, denn in der Gesellschaft muss man immer irgendwas triunken oder essen, nur um einfach gesellig zu sein und beim Alkohol ist es extrem schlimm, wie die Leute da unter Druck gesetzt werden. Tolles Blog – toll, dass du gegen den Strom schwimmst. Ich wünsche dir viel Erfolg

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    1. Ja du hast absolut recht. Ich kann dir da nur zustimmen. Unsere Gesellschaft ist geradezu besessen von ihren „Genussmitteln“. Alkohol vorne weg. Es ist schon absurd, wenn man einmal darüber nachdenkt wie schädlich Alkohol eigentlich ist und wie inflationär er bei jedem erdenklichen Event ausgeschenkt wird. Und dass Personen, die bei dieser Farce nicht mitmachen, dann teilweise schon beinahe ausgegrenzt werden und sich jedes mal rechtfertigen müssen. Ein bisschen Hoffnung habe ich trotzdem, dass sich etwa daran ändern kann. Wenn wir das mal vergleichen mit dem Stand von Tabak und Zigaretten vor 50 Jahren als super viele geraucht haben vs jetzt. Inzwischen würde keiner sowas fragen wie: „wie? Du rauchst nicht? Bist du schwanger?“ Nicht rauchen ist die Norm. In den Köpfen ist angekommen, dass Tabak schädlich ist. Vielleicht kommen wir beim Alkohol ja auch irgendwann mal an den Punkt. Wäre das nicht schön? 💕 und bis dahin schreibe ich weiter und danke für deinen Kommentar. Das hat mir wirklich den Tag versüßt 🌷

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